1.10.2023
Als schwuler Dachdecker auf Walz
Vadder, Bude, Visage, Flosse, dazu die alte Rechtschreibung: Es braucht ein bisschen Zeit, sich an den jugendlichen Ton Ende der 1970er Jahre zu gewöhnen, in dem Gabriel seine Erlebnisse während der Wanderschaft niederschreibt. Doch ab der ersten Seite lassen seine Beschreibungen und Beobachtungen eine*n den Roman kaum mehr aus der Hand legen.
Der Teenager hat gerade die dreijährige Lehre zum Dachdecker im Betrieb seines Vaters hinter sich. Jetzt verlässt er sein kleines Heimatdorf am Niederrhein, um für drei Jahre auf Walz zu gehen. Eine Zeit des Lernens beginnt.
In fast jeder Situation steckt Erotik
"Spunk" verbindet geschickt Road Novel mit Coming-of-Age-Geschichte: Gabriel, viele nennen ihn halb spöttisch, halb liebevoll nur Gabi, berichtet von Begegnungen mit Auftraggeber*innen, denen er beim Renovieren hilft, von Freundschaften, die sich in seiner Zeit in Berlin entwickeln. Er trifft auf den Hausbesetzer Said Pilischewski, kurz Pille – der erste Said, den er kennenlernt. Er zieht in das besetzte Haus ein, zu schaniegeln, wie Handwerker*innen auf Walz sagen, gibt's hier genug. Ist da Freundschaft oder doch mehr?
Und der junge Dachdecker erzählt von Sex. Nie explizit oder derb – dafür ist er vielleicht doch zu katholisch geprägt. In fast jeder Situation steckt in Michael Roes' neuem Roman "Spunk" etwas Erotisches: Der Lkw-Fahrer, der den Anhalter Gabriel mitnimmt, fasst sich die ganze Zeit in den Schritt; während er neben Messdienern übernachtet, spielen die aneinander rum; und in Frankfurt ist er zwar vom "Homolulu", dem ersten internationalen Homosexuellen-Treffen, enttäuscht, der Sex mit Alexander begeistert ihn dafür umso mehr.
Doch Gabriel blickt auch zurück: Er schreibt von den Demütigungen und Schlägen, mit denen sein Vater ihn und seine zwei Geschwister übersät, vom Mangel an Zuneigung und Liebe, der in der ganzen Familie herrscht, von ersten Erfahrungen mit anderen Jungs, die er erstaunlich selbstbewusst kommentiert, auf die er manchmal sogar stolz ist. Erstaunlich, weil alle schwulen Geschichten, die er kennt, "im Selbstmord, im Knast oder in der Gaskammer endeten", wie er selbst bemerkt.
Bildungsroman aus schwuler Perspektive
Überhaupt ist Gabriel ein ganz untypischer 19-jähriger Geselle vom Land: Er schreibt Psalmen, reflektiert über die Worte, die er sagt und aufschreibt, liest Böll und Camus, schaut sich auf der Berlinale einen Fassbinder-Film an, auch wenn er ihm nicht gefällt. Je weiter weg er von seiner Heimat Wertherbruch kommt, desto freier drückt er sich aus.
Michael Roes ist mit "Spunk" ein Roman zum Verschlingen gelungen. Der Autor hat für seinen Ich-Erzähler einen ganz eigenen Sound zwischen notizenhaft und detailliert gefunden. Die Zeit, 1978/79, wird deutlich: Gabriel schreibt vereinzelt über politische Ereignisse, "Homolulu" hat wirklich stattgefunden, der 17-jährige Alexander sagt dem zwei Jahre älteren Gabriel, dass ihr Sex verboten war. Doch Michael Roes überfrachtet seinen Roman nicht mit historischen Begebenheiten.
Der vielfach ausgezeichnete Autor erweitert mit "Spunk" den Bildungsroman um eine dezidiert schwule Perspektive: Gabriel ist ein echter Sympathie-Träger, manchmal entschlossen und mutig, dann wieder unsicher und auch überfordert – und sich all dessen bewusst. Ein junger Mann, der sich von seiner Herkunft zu lösen versucht, der den Abstand zu den schwierigen Verhältnissen genießt, ohne seine Familie zu verteufeln, der während seiner Wanderschaft spürbar wächst. Und der auf seiner Walz sicher mehr über sich, übers Lieben und Blasen lernt als übers Dachdecken.
Quelle: https://web.archive.org/web/20231009000543/https://www.queer.de/detail.php?article_id=47135
Zugriffsdatum: 3.10.2023
letzte Aktualisierung: 9.10.2023