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Schweizer Buchpreis für "Neon Pink & Blue" von X Schneeberger

Schneeberger schildert das Leben des Transvestiten «X» als Chronik eines wilden Sommers mit nicht enden wollenden Nächten. Die variierenden Konstellationen nächtlichen Tanzpublikums zwischen glitzernden Drag Queens, schlägernden «Homeboys» und Drogendealer*innen fügen sich dabei zu einem karnevalesken Mosaik zusammen. Diesem prismatischen Textverfahren unterliegt auch das Moment der Autorschaft, das in zwei Teile zerfällt. So zeichnet für manche Textabschnitte Schneeberger als Urheber, während andere von X Noëme stammen – an einer Stelle auch Chloé Noëme –, die gleichsam als Alter Ego Schneebergers figuriert. Die Hauptfigur X wiederum wird im Text als «er», «sie» und «es» vorgestellt und ist «immer in zwei gleichzeitig verliebt, häufig eine Frau und einen Mann.»

In die Party-Protokolle webt X Schneeberger kreuz und quer musikalische und literarische Referenzen ein, die sich von Walter von der Vogelweide, Thomas von Aquin und dem Lukas-Evangelium über Elvis Presley zu Toni Morrison und Marlene Dietrich erstrecken. Gratiszeitungen und Sprüche aus der Berner Reitschule werden ebenso zitiert wie Schweizer Volkslieder und Jodler. Die que(e)ren Textbezüge entstammen der bunten Auswahl an Texten, die sich X in der Erzählung aus den Bücherregalen der nächtlichen Gastgeber*innen fischt. Dergestalt verdeutlicht Schneeberger das komplexe Bezugsnetz, das sich in der Biografie seiner Hauptfigur verdichtet. Indes macht er es den Lesenden nicht leicht, auch sein Personenregister ist wild und unberechenbar. Wenige der Figuren lernt man gut kennen, jede von ihnen kann genauso schnell wieder verschwinden, wie sie heraufbeschworen wurde und die Wenigsten begleiten den Roman bis zu seinem Ende.

Dabei zeichnet X Schneeberger das Bild einer prekär lebenden Hauptfigur, deren Fluidität sich nicht nur hinsichtlich der eigenen Identität, des Namens und der Sexualität zeigt. Die Figur lebt ohne gültige Papiere und ist aus finanzieller Not auf die Hilfe von Freund*innen angewiesen, wenn es ihr nicht gerade gelingt, Gras zu verticken und damit Eintritt und Getränke für die nächste Party zu sichern. In einer emblematischen Szene fährt X schwarz mit der Bahn, als ein Kontrolleur einsteigt. X ahnt das Schlimmste und weiss, dass er die Busse nicht wird bezahlen können. Doch der Kontrolleur sieht ihn nicht – oder ignoriert ihn. Fassungslos registriert X, dass er für das System – personifiziert im Kontrolleur – zu einem Geist geworden ist. Eindrücklich schildert Schneeberger in solchen Szenen, wie seine Figur für den Staat einerseits unsichtbar, diesem andererseits schutzlos ausgeliefert ist. Dazu gehören die eingeschobenen Szenen aus dem Polizeiposten an der Militär-Langstrasse, in denen exemplarisch durchgespielt wird, wie eine Person ohne Papiere, ohne permanente Adresse und mit wechselnden Namen im Verwaltungsapparat schlicht nicht vorgesehen ist und die bürokratischen Triebwerke in den Leerlauf geraten. Zu den Auseinandersetzungen mit dem Staat gesellen sich Konflikte mit diversen Liebhaber*innen, Erfahrungen von sexueller und körperlicher Gewalt, Abhängigkeiten, Todesangst.

In den weniger düsteren Passagen ist Neon Pink & Blue schrill und humoristisch und gibt sich als Schelmenroman. Das zunächst implizite pikareske Vorbild Till Eulenspiegel wird im Verlauf des Texts mehrmals explizit erwähnt, während die Hauptfigur durch die verschiedensten Aargauer und Zürcher Schauplätze zieht, zwischen Bars, Clubs, und den ständig wechselnden Schlafstätten. Tatsächlich besteht die Qualität des Romans eher in der Stärke der einzelnen Szenen als in der losen Kohärenz seiner Gesamterzählung. In ihnen inszeniert Schneeberger einen «Kettenbrief der Liebe» und einen «Schenkkreis des Begehrens».

Gleichzeitig schreibt Schneeberger in dem Bewusstsein: «Wer erzählt, hat überlebt». Gegen Ende des Romans kommt es zu einer makabaren Aufzählung der Schicksale, dem der queere Bekanntenkreis Schneebergers zum Opfer gefallen ist. Vielleicht ist es dieses Bewusstsein, das zu Schneebergers unerhörtem Erzähleifer führt. So ist der Text in gedrängten, eilenden Sätzen geschrieben, konsequent gehalten in der indirekten Rede, die anzeigt: alles muss erzählt werden, und das so schnell wie möglich. Dieser Stil, gepaart mit den unzähligen literarischen und musikalischen Referenzen, den spontan eingeschobenen Gedichten, den in Majuskeln verfassten Polizei-Interaktionen und der geteilten Autorschaft ergibt eine queere Poetik, die den Textinhalt klug und kühn aufgreift. Damit ist Schneeberger ein beeindruckendes Romandebüt gelungen, das im Erzählen ein Subjekt zwischen fluider Identität und Sexualität, ökonomischem und sozialem Prekariat, unter verschiedensten Literatur- und Substanz-Einflüssen als glitzernde Collage entwirft.

Quelle: https://www.buchjahr.uzh.ch/niemals-endende-naechte/

Zugriffsdatum: 14.9.2023

letzte Aktualisierung: 14.9.2023

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