13.7.2023
Rezension des Debütromans "Nadia" von Can Mayaoglu
In diesem Frühjahr veröffentlichte die Hamburgerin Can Mayaoglu in literarisches Debüt, „Nadia“ . Die Kurzbiografie der Autorin legt den Gedanken nahe, dass ihr eigenes Aufwachsen in einem deutsch-türkischen Psycholog:innen-Haushalt nicht spurlos am Storytelling der studierten Religionswissenschaftlerin vorbeigegangen sein dürfte. Vielmehr scheint es das kreative Feuer einzufrieden, in dessen Schein sie ihr Schreiben betreibt.
Nadia Kartal ist auf der Durchreise – und das schon seit Jahren. Mit
ihrer erfolgreichen Ausstellung „STIP“ tourt die fast 40-Jährige
Installationskünstlerin über den Globus und lässt sich von der
internationalen Kunstszene feiern. Doch als sie zur Finissage in ihre
Heimat Hamburg zurückkehrt, gerät ihr von unbequemen Gefühlen isoliertes
Jetset-Leben in Turbulenzen: Nicht nur, dass sie sich nun unmittelbar
konfrontiert sieht mit der Leerstelle, die das Verschwinden ihrer
jüngeren Schwester Dilhan vor beinahe zehn Jahren in ihrem Leben
hinterlassen hat. Auch die Erinnerungen an ihre Exfreundin Rahel
kriechen nun unerbittlich aus dem Beziehungsgrab, um Nadia zu verfolgen
und zu quälen.
„Während Cagney das Taxi durch den dichter werdenden Verkehr manövrierte, wobei sie gekonnt die wenigen Lücken nutzte, um zügiger voranzukommen, durchfuhr Nadia der Gedanke, dass irgendwo in dieser Stadt Rahel mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern lebte. Und dass sie, Nadia, irgendwo in dieser Stadt ihr Herz vergraben hatte.“
Can Mayaoglu erweckt in ihrem Erstling eine moderne, lesbische, türkisch-deutsche Protagonistin zum Leben, ohne deren sexuelle Orientierung unnötig in den Vordergrund zu spielen, geschweige denn aus dieser (oder der Bisexualität der Ex-Freundin) ein Problem zu machen. Stattdessen widmet sich die Autorin auf 261 Seiten dem alters-, geschlechts- und genderlosen Sujet des Verlustes und den seltsamen Strategien, die Menschen entwickeln (können), wenn sie sich vor einem solchen zu schützen versuchen. Dabei besticht das Buch durch einen flotten Schreibstil, die beliebte norddeutsche Kulisse der Stadt Hamburg und – so viel sei bereits vorweggenommen – das Auslassen eines alle Konflikte auflösenden finalen Säurebades. Aber fangen wir von vorn an.
Die Figur Nadia ist – so heißt es im Roman – „geparkt in einer Übergangswelt zwischen Hier und Dort“. Gemessen am Trauerphasen-Modell der Psychologin Verena Kast steckt sie fest zwischen der zweiten und dritten Phase des Trauerprozesses: Sie ist wütend, ja, extrem wütend. Motzig und egozentrisch ist sie sowieso, und weil wir über den Großteil des Buches nur diese eine Seite der Figur gezeigt bekommen, fällt es nicht unbedingt leicht, Sympathie für Nadia zu entwickeln – auch wenn uns ihre Schicksalsschläge immer wieder in Form von puzzlehaft eingestreuten Rückblenden nahegebracht werden.
Aber es gibt ja noch Nadias Mitmenschen. Die sind ganz anders, wesentlich sortierter und reflektierter – ein optimales soziales Auffangnetz eigentlich, wenn die Protagonistin denn bereit wäre, ihren im Tiefflug befindlichen Seelenzustand zuzugeben und sich hineinfallen zu lassen. Sowohl die ältere Schwester Minoo (von Beruf Psychotherapeutin!), Schwager Jaques, dessen Bruder Jean als auch Assistentin und Busenfreundin Su-Lin senden Nadia immer wieder einfühlsame Signale der emotionalen Interventionsbereitschaft – und halten damit die stets passenden, zweckdienlichen Monologen bereit, die es braucht, um die Geschichte voranzutreiben.
Zudem stellt Mayaoglu ihrer Titelheldin gleich nach ihrer Ankunft in der Hansestadt eine rüstige Taxifahrerin zur Seite, die auf Abruf angebraust kommt, um erinnerungsträchtige Orte anzufahren und diskrete, alltagspsychologische Therapiearbeit zu leisten. Zugegeben, einige Puzzleteile fallen ein bisschen sehr präzise vom Himmel in die geisterhaften Lücken, aber das gehört wohl ebenso zum Konzept wie die akkuraten Platzierungen von Fragmenten (ziemlich guter!) Popsongs, die – mal als Kapiteltitel, mal als Bestandteile der Erzählung – zitiert werden, um auch jene Dimensionen von Nadias Emotionschaos zu erschließen, bei denen es der auktorialen Erzählperspektive die Sprache verschlägt.
Apropos: Wirklich gelungen ist die technische Ausstattung des von Grafikdesigner Robert Schulze sehr ansprechend gestalteten Hardcover-Buches: Die von Nadia als wichtiger Teil ihres künstlerischen Schaffensprozesses wiederholt angeschmissene Spotify-Playlist wurde vom Verlag als scanbarer QR-Code gleich hinter die Titelseite gesetzt. Dadurch wird nicht nur ein Fenster in der vierten Wand geöffnet, sondern das Leseerlebnis auch multimedial aufgeladen.
Passenderweise beginnt und endet der Roman mit „STIP“– eben jener
umjubelten interaktiven Ausstellung, die nicht nur eine eigene
Erzählebene bildet, sondern auch eine Metapher für Nadias Trauer ist.
Die detailverliebte Bildhaftigkeit, mit der Mayaoglu die
Installationskunst ihrer Anti-Heldin beschreibt, ist beeindruckend und
die eigentliche Stärke des Romans. Sie macht verdammt Lust darauf, sich
in den Zug nach Hamburg zu setzen und den Deichtorhallen einen Besuch
abzustatten, wo weite Teile der Romanhandlung spielen. Dort gibt es dann
zwar auch im wirklichen Leben zeitgenössische Kunst zu sehen, zum
Bedauern von Mayaoglus Leser:innen aber keine Manifestation des fiktiven
Werkes.
Erschienen am 13.Juli 2023 auf sissymag.de
Quelle: https://www.sissymag.de/can-mayaoglu-nadia/
Zugriffsdatum: 12.9.2023
letzte Aktualisierung: 14.9.2023